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Wie ich durch den Minimalismus erwachsen wurde

Ein anonymer Gastbeitrag

11.04.2015

Jedes Einzelteil war wichtig für mich. Es hingen diffuse Erinnerungen dran oder man konnte es nochmal zum Basteln/Gärtnern/Reparieren/Deko… verwenden. Einiges hatte keine konkrete Erinnerung, es war einfach wichtig für mich, Dinge aus der Vergangenheit festzuhalten. Verlustangst spielte wohl eine Rolle und die Gegenstände haben mir ein Sicherheitsgefühl gegeben. Alles was ich mal besessen habe, war wie ein Teil von mir geworden und es war schlimm, Dinge wegzugeben. Wenn ich etwas nicht mehr genutzt habe, musste es bleiben, einfach um da zu sein, um mich herum zu sein. Die Dinge haben mich ausgemacht, ich habe mich über die Gegenstände definiert.

Ich habe das Gefühl, die Ausmistattacke im Juli 2013 war wichtig, um in meinem Leben nicht an genau dem Punkt stecken zu bleiben. Das Weiterführen meines Studiums wäre rein technisch nahezu unmöglich geworden, da sich die Schnellhefter teils in Stehsammlern, teils in Stapeln auf dem Boden sammelten und jegliche Versuche von Ordnungssystemen nicht ansatzweise durchführbar waren. In den Regalen waren irgendwelche Sachen an die ich mich kaum noch erinnere. Prägend war jedenfalls, aus einer Moppekiste mit drei Schubfächern voller Papier- und anderer Sachen eine leere Moppekiste zu machen, die jetzt sinnvoll leere Blöcke, Schmierzettel und Notizhefte beinhaltet. Ich habe Gegenstände umsortiert und zu sinnvollen Gruppen zusammengefasst und diesen Gruppen ein neues zuhause gegeben.

Unglaublich viel ist weggekommen. Schon vor der Riesenausmistaktion erinnere ich mich, über 100 Kleidungsstücke weggegeben zu haben, damals noch ein Großteil in den Altkleidercontainer. Einige Zeit später wurde in einer Hauruckaktion innerhalb etwa einer Woche mein gesamtes Zimmer leergeräumt, wie für einen Umzug. Nur die Kleiderschränke durften gefüllt bleiben, da sie relativ kurz zuvor bereits aussortiert wurden. Die Bücher wurden auf dem Sofa gestapelt und alle meine Besitztümer fanden Platz in einigen Klappkisten im Flur. Dann war Grundreinigung angesagt und das Genießen der Leere. Ich mag solche leeren, normalerweise unbewohnten Zimmer, wie man sie z.B. beim Renovieren oder Einziehen hat, den Hall und den Geruch der Wände, des Bodens, der wenigen leeren Möbel. Stück für Stück wanderte wieder in mein Zimmer, was bleiben durfte. Beim Ausräumen war ein großer blauer Müllsack vollgeworden und eine Umzugskiste an Weg-Sachen die in der folgenden Zeit verschenkt und gespendet wurden. Während der Arbeit und auch kurze Zeit vorher las ich so ziemlich jeden Artikel über Aufräumen, Ordnung machen, Ausmisten, Entrümpeln etc. den das deutschsprachige Internet so hergibt. Als ich aufs Erste fertig war, hatte ich Blut geleckt und las mich weiter in die Materie ein, da ich einfach Lust hatte weiterzumachen und ich das leere Zimmer vermisste, das so nach Neubeginn, Umzügen, Veränderungen duftete. Also flogen aus dem wieder eingerichteten Zimmer weiterhin Dinge raus, bzw. durften gar nicht wieder einziehen oder fristeten den Rest ihrer Zeit in meinem Besitz in Kartons, bis sie jemand anders haben wollte und ich sie schlussendlich im März 2014 allesamt ins Johannesstift zur Spende fuhr.

Mit jedem Teil weniger fühlte ich mich auf eine gewisse Weise befreit und erleichtert, auch wenn ich manches Mal schlucken musste, vor einem endgültigen Abschied. Doch über die Zeit hat sich mein Verhältnis zu meinem Besitz grundlegend verändert. Das viele Weggeben hat abgehärtet und man wird richtiggehend geübt darin, es macht sogar Spaß, ist befreiend und tut gut.

Ich hänge an fast gar nichts mehr und zu viel Herumliegendes oder -stehendes macht mich kirre. Es ist auch ein gutes Gefühl, nicht mehr ständig Angst zu haben, was wäre wenn etwas kaputt geht.

Damit verbunden bin ich auch viel ordentlicher und sauberer geworden und auch besser organisiert, wobei das bisher als Letztes kam und ich daran noch viel arbeiten muss. Aber es ist schon mal schön, dort eine Veränderung zu sehen, da es mich doch belastet hatte, nichts auf die Reihe zu kriegen.

Update 23.09.2015

Mittlerweile bin ich gefühlt ein anderer Mensch geworden und erkenne mich kaum wieder in dieser anderthalb Jahre alten Beschreibung. Vor allem kriege ich Dinge auf die Reihe, wie ich es ausgedrückt hatte. Ich schaffe es, mir realistische To Dos zu geben und die dann auch durchzuziehen, Projekte in Angriff nehmen statt sie nur ewig für irgendwann zu planen. Ich mache mir konkrete Termine für Dinge und erledige Sachen dann auch tatsächlich, ich bleibe an etwas dran, wenn ich mir das vornehme. Ich dachte immer, ich bin total vermurkst weil ich nichts gebacken kriege, aber jetzt weiß ich, dass es vielen Leuten auch so geht und ich sehe, wieviel Arbeit und Veränderung bei mir nötig waren, damit mir das jetzt leicht fällt. Im Anblick dessen, was sich an meiner Persönlichkeit getan hat, verstehe ich auch mein damaliges Ich besser und kann mir somit im Nachhinein gar keine Vorwürfe mehr machen, da mir klar ist, dass ich früher niemals so hätte handeln können wie ich es jetzt tue, da mir die Erfahrung und das Wissen von heute fehlten.

Noch immer fallen in unregelmäßigen Abständen wieder Gegenstände zum Ausmisten an, ich gehe auch nicht davon aus, dass dies je aufhören wird. Im Großen und Ganzen bin ich „fertig“ mit dem großen Aufräumen, doch ich freue mich, dass es immer weitergeht und ich somit wohl nicht Gefahr laufe, mich je wieder so vollzurümpeln. Ich erlebe verstärkt, dass bestimmte Gegenstände, die ich vorher aus diffusen Gründen nie gehen lassen wollte, plötzlich unnötig und überflüssig für mich sind.

Ich würde nichtmal sagen, dass ich mich als Person verändert habe. Ich glaube, ich bin einfach erwachsen geworden und ICH geworden, aus dem chaotischen unstrukturierten Kind durch Wachstums- und Verarbeitungsprozesse.

2 Kommentare

  1. Oh, ich verstehe dich so gut! Ich bin auch aktuell dabei, mich noch weiter zu reduzieren und empfinde das als total befreienden Prozess und als endgültiges Erwachsenwerden. :)

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  2. Wow! die Sache nimmt ja scheinbar wirklich einen langen Zeitraum ein.
    Ich habe im Februar dieses Jahr begonnen Dinge loszulassen und mich langsam gefragt, wann es ein Ende nimmt, als grobes Ende habe ich mir August gesetzt (also insgesamt 6 Monate). Mir fallen täglich neue Dinge ein die ich verschenken oder verkaufen werde. Momentan erlebe ich ebenfalls diese Wesensveränderung, die du beschreibst und es ist einfach unglaublich! Ich verstehe mich plötzlich wesentlich besser mit meinen Kollegen, bin strukturierter im Kopf (wenn ich nicht gerade ans Aufräumen denke ^.^) und tu einfach, anstatt über Wenn und Abers nachzudenken. Es ist wundervoll!

    Mich würde sehr interessieren, wie lang bei Dir schätzungsweise die Basis der Reduzierungs Aktion gedauert hat, bis alle Bereiche abgedeckt waren?

    Liebe Grüße!
    Josi

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