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Darf ich stagnieren?

Ein Credo ist in meiner/unserer Zeit und Generation populär und scheinbar verinnerlicht wie kaum ein anderes: Stillstand ist Rückstand.
Auf einem Level stagnieren kommt einem völligen Versagen gleich. Nur wer sich permanent verbessert und vergrößert, wächst, über Ziele hinausschießt, hat Erfolg. Ist das so?

Schneller, höher, weiter!

Gerade in der Wirtschaft kommt Stillstand einem Todesurteil gleich. Wer nicht bis zum nächsten Quartal gewachsen ist, mehr Gewinn erwirtschaftet hat, ist quasi scheintot. Oder zumindest unrettbar auf dem absteigenden Ast… So zumindest die Auffassung der meisten Unternehmen, wie es scheint. Aber nicht nur der Unternehmen. Auch viele Privatmenschen haben dieses Credo schon verinnerlicht und können oder wollen nicht mehr davon abweichen.
Auch im privaten Bereich muss es immer eine Steigerung geben; sich mit seinem Besitz oder seinen erreichten Leistungen zufrieden geben ist out.
Bewusster Verzicht auf mehr oder besseren Besitz stößt häufig auf Unverständnis; warum sollte man sich mit etwas zufrieden geben, wenn man doch auch etwas viel besseres haben kann?

Der Punkt ist nur: man kann sich damit zufrieden geben, wenn man damit glücklich ist!
Ich kann mich also damit zufrieden geben, ein nicht mehr aktuelles Smartphone zu besitzen. Ich brauche nicht jedes (oder jedes halbe) Jahr das neuste Modell, um mit einem „Standard“ mitzuhalten. Einem Standard, den eine Industrie definiert, die von unserem Konsum lebt.
Genauso kann ich völlig damit zufrieden sein in einer kleinen Wohnung zu leben. Wozu brauche ich ein ganzes Haus mit viel zu vielen Zimmern und viel zu viel Platz für mich. Wenn ich in meiner kleinen Wohnung glücklich bin, weil ich mich schon eingerichtet habe und sowieso nicht viel Platz brauche weil ich nicht viel besitze dann ist alles in Butter! Wozu also mehr Geld für mehr Wohnraum ausgeben, den ich sowieso nicht brauche. Der Traum vom eigenen Reihenhäuschen liegt mir völlig fern!
Eine echte Kontroverse im Bezug auf das Zufriedengeben stellt die Bildung bzw. berufliche Laufbahn dar.
Wenn man in Gesellschaft mehrerer Menschen darlegt, dass man sich nicht weiterbilden will, keinen Master-Abschluss machen möchte und keinen Doktor-Titel braucht und auch sonst nicht in eine Führungsposition aufsteigen will, wird man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Unverständnis ernten. „Mach doch deinen Master… dann kriegst du mehr Geld. Verlange doch eine Beförderung, dann hast du mehr zu sagen!“ etc. etc.
Aber ich will gar keine Führungsposition! Und einen Master, geschweige denn einen Doktor brauche dich doch gar nicht. Ich bin zufrieden mit meinem Bachelor und meinem Job. Er ist gut und ich bin glücklich mit meinen Aufgaben. Warum sollte ich also an einem Punkt, an dem ich zufrieden und glücklich bin nicht stagnieren? Ist es nicht unser aller Ziel das Glück zu behalten?

Diese Einstellung entspricht natürlich nicht unserem vorherrschenden Wirtschaftsmodell, das maßgeblich auf dem Steigerungs-Wunsch des privaten Besitzes basiert. Und natürlich ist eine gewollte Steigerung privaten Besitzes oder persönlicher Ziele absolut gerechtfertigt. Aber… wenn ich zufrieden bin brauche ich keine Steigerung; weder materiell noch intellektuell. Zufrieden heißt = es ist alles gut so wie es ist. Und an diesem Status Quo kann man beruhigt auch mal festhalten.

Mein Fazit also: Ich darf stagnieren!

7 Kommentare

  1. Viel Spaß beim Stagnieren, die Einstellung ist gut :)
    Glück ist halt für jeden was anderes, und die meisten setzen es leider damit gleich, viel Geld zu verdienen..

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  2. Ein sehr schöner Artikel! Ich stimme dir sehr zu, man sollte auch einfach genießen, was man hat.
    Gerade erst habe ich selbst einen Abschluss erhalten und habe ähnliche Konversationen, wie sie hier anklingen. Ich für meinen Teil überlege, noch einmal einen anderen Weg einzuschlagen und stoße ebenfalls auf viel Unverständnis. Aber warum immer weiter geradeaus und nach vorne rennen?

    Ich wünsche dir jedenfalls, dass du genussvoll stagnieren kannst. :)

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  3. Spannende Frage! Ich glaube ja, dass es so etwas wie Stagnation nicht wirklich gibt. Die Natur lebt uns das ganz gut vor: Selbst dann, wenn etwas nicht weiter wächst, entwickelt es sich weiter. Das finde ich besonders auf intellektueller Ebene interessant. Ich denke darüber noch mal nach. :)

    Lieber Gruß,
    Philipp

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  4. Was heisst stagnieren?

    Ich nehme an, du hast dieses Jahr neue Freunde gewonnen oder Beziehungen vertieft.
    Ich nehme an, du hattest gute Erlebnisse.
    Ich nehme an, du bist um einige Erfahrungen reicher, die dich reifer / stärker / weiser gemacht haben.

    Ich hoffe, du hast nicht stagniert.
    :-)

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  5. Ich habe ganz bewußt alte Geräte stehen. Mein Fernseher ist noch eine Röhre, 11 Jahre alt. Die Stereoanlage 20 Jahre. Ein Plattenspieler sogar Ende 70-iger Jahre, den ich gebraucht geschenkt bekam.

    Was mich tierisch ärgert: Ich soll meinen funktionierender Fernseher wegwerfen, weil analoge Sender nicht mehr gibt. Denkste! Ich hab ein kleines Kästchen besorgt, damit geht es wieder. Leider gibts viele Sender nicht mehr, z. B. Arte. Abgesehen vom bescheidenen Angebot. Arghhhh!

    So geht es mit vielen. Wer wartet mein Plattenspieler? Wo bekomme ich Ersatznadeln? Im Schwarzwald, wo er hergestellt wurde, gibts ein Museum. Wer repariert heute alltägliche Dinge?

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    • Beim Fernseher ist dann allerdings die Frage, wie hoch der Stromverbrauch bei einem alten Gerät ist und ob es sich nicht lohnen würde, einen neuen anzuschaffen, um weniger laufende Kosten zu haben. Aber das richtet sich dann natürlich an den individuellen Verbrauch des Besitzers :)

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  6. Wie schon im Forum geschrieben… fragt man die Leute, was sie unter Glück verstehen, wird Zufriedenheit meist als Vorstufe genannt oder beides sogar gleichgesetzt. Aber es ist in der Tat so, dass man damit fast schon ein Stigma mit sich trägt, da uns von allen Seiten vorgelebt wird, wir müssten uns steigern, über uns hinauswachsen…
    Aber wächst man nicht auch über sich hinaus, wenn man sich davon lossagt, mehr erreichen zu wollen, um noch mehr besitzen zu können, um noch mehr „zu sein“…

    Mir kommt dabei oft die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll in den Sinn. http://www.aloj.us.es/webdeutsch/s_3/transkriptionen/l_26_str10_trans.pdf

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