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„Ma“ – das japanische Konzept der Leere

Was inspiriert einen ehemals vehementen Maximalisten dazu, minimalistischer zu leben? Konkreter Auslöser war bei mir sicher der Minimalistenthread auf Kleiderkreisel, ohne den ich heute nicht so weit wäre. Allerdings gibt es vieles, was mich unterschwellig schon länger beeinflusst hat. Seit einigen Jahren lerne ich Japanisch und beschäftige mich automatisch auch viel mit Kultur und Lebensart. Ein typisch japanisches Konzept will ich heute vorstellen: „Ma“, die japanische Vorstellung von Leere und Raum.

Achtung, theoretischer Kladderatsch – wer lieber minimalistisch lesen möchte, scrollt bitte runter bis zum nächsten Platzhalter

Die japanische Ästhetik ist geprägt von der reinen und essentiellen Leere zwischen den Dingen. Uff, was soll das denn sein? Es lässt sich vielleicht so erklären: Wo zu viel ist, verlieren wertvolle Gegenstände ihren Wert und nichts hebt sich mehr von der Masse ab. Der Raum zwischen den Dingen heißt im Japanischen „Ma“ und fungiert als Fassung oder Rahmen, in dem Gegenstände existieren können und besondere Bedeutung erlangen. Dieses Bewusstsein für Leere wird im Japanischen nicht negativ, sondern vielmehr als Freiraum und Chance für Möglichkeiten angesehen.

Das Kanji
Das Kanji (=Schriftzeichen) bedeutet (Zwischen-)raum, Platz, (Zwischen-)zeit, freie Zeit, Abstand, Zimmer, Einheit für Zimmergröße, Rhythmus, (Sprech-)pause, gute Gelegenheit (!), Verfassung, Zustand, Ankerplatz.

Es besteht aus den Bestandteilen „Tor“ (門) und „Sonne“(日) und drückt somit das Licht aus, das durch ein Tor scheint. Das Licht bekommt erst durch die offenen Türen des Tors einen „Kontext“. Dieser Kontext ist der Raum oder die Leere. In dieser Bedeutung wird es „ma“ gelesen, es kann sich aber auch auf einen Zeitraum beziehen und heißt dann „(ji-)kan“. Als Abstand zwischen Dingen lautet es „aida“ und drückt gleichzeitig die Verbindung und die Polarität zwischen zwei Dingen aus.

In der Kunst
„Ma“ als Stilmittel wird zur ästhetischen Beurteilung in der japanischen Kunst eingesetzt. Die Kürze eines Haiku-Gedichts oder die freien Flächen in der Malerei, Ikebana oder Kaligraphie stellen hier keinen Fehler, sondern eine bewussten Reduktion dar, durch den der Inhalt mehr Bedeutung und Schönheit erlangt.
Auch im traditionellen Noh-Theater tragen die Schauspieler seit dem 14. Jahrhundert starre Masken, um durch Verzicht auf Mimik dem Ideal des Zen-Buddhismus näher zu kommen: die Reduktion auf das Wesentliche und das Anstreben von Schönheit durch natürliche Einfachheit.
Ebenso ist die japanischen Architektur stark geprägt von minimalistischer Zurückhaltung. Schlichte, offene Räume sollen den Sinn für Leere schärfen. Diese kunstvolle „Armut“ wird durch variable, temporäre Arrangements (z. B. Futons), Schiebetüren und Paravents, die die Raumstruktur verändern können, verdeutlicht. Der Raum an sich hat einen so starken Kontext im Japanischen, dass ein Individuum sich ihm nicht entziehen kann, es gibt keinen „privaten Raum“ und daher auch kein ursprünglich-japanisches Wort für Privatsphäre.

Im Buddhismus
Das Konzept des Raums wurde von japanischen, buddhistischen Mönchen angenommen um die Leere oder auch „Lücke“ auszudrücken. Diese Leere ist weniger durch rationale Überlegungen zu erreichen sondern vielmehr durch Meditation. Um die Leere wertschätzen zu lernen, dienen z. B. scheinbar karge Sandbänke mit vereinzelten Steinen in Zen-Gärten dazu, den Kontrast zwischen Form und Leere hervorzuheben. So wird es möglich, die Leere im übertragenen Sinne erfahrbar zu machen. Hebt der freie Raum die Steine hervor oder bekommt die Leere durch sie erst ihren Kontext? :)

Teezeremonie
Auch die typisch japanische Teezeremonie folgt dem Ideal des „Ma“. Sie stellt eine Pause im immer schnelleren Alltag dar, die unserem vielbeschäftigten Leben besondere Bedeutung verleiht. Die Teezeremonie soll Gemütsruhe (‚heijoshin‘) durch ihre Ruhe und ihre Schlichtheit erzeugen. So soll Platz für neue Energie, für Kontemplation und für Wachstum geschaffen werden.

Hier Ende theoretischer Krempel

Was also hat mir das ganze konkret gebracht? Ich sehe meine Besitztümer mittlerweile mit einem anderen Auge: Wenn man die eigene Wohnung als bedrängt und vollgestopft wahrnimmt, liegt das an zu wenig „Ma“, zu wenig Leere, die den einzelnen Gegenständen erst Bedeutung schenkt. Wenn ich 5 Sakeschalen besitze, was macht es dann noch aus, wenn ich eine sechste kaufe? Besitze ich nur eine, sorgt dieser „Mangel“ dafür, dass die eine wertvoll und kostbar für mich wird.


Leere in der Einrichtung erzeugt Ruhe und schafft Platz nicht nur im physischen Sinn, sondern auch Platz für Möglichkeiten. Ist die Bude vollgerümpelt, zieht man sich zurück und schränkt sich mit zunehmender Enge immer weiter ein. Wenn man hingegen Platz und Ordnung schafft, kann man in den eigenen vier Wänden Sport treiben, Freunde einladen, die Wohnung mit Leben füllen.
Das Ausmisten und Entrümpeln stellt für wahrscheinlich jeden ein Wechselbad der Gefühle dar: Euphorie und Freude am freien Raum gepaart mit Verlustängsten. Dieser neu geschaffene Platz mit seinen tausend Möglichkeiten, mit was kann er befüllt werden? Soll er überhaupt befüllt werden? Werde ich die aussortieren Dinge vielleicht doch in Zukunft brauchen? Diese Ängste sind typisch westlich. Achtung philosophisch: Im Japanischen wird die Leere nicht unbedingt als negativ oder als „nicht-existent“ sondern als eigene Form der Existenz angesehen. Die echte Leere im Sinn von Mangel hat im Japanischen ein gesondertes Wort (nämlich kuu ). Im Deutschen fehlt die sprachliche Unterscheidung zwischen einer positiven und einer negativen Leere.

Für mich macht diese japanische Sichtweise Leere zu etwas positivem, etwas, das auch seinen „Platz“ im Schrank verdient hat und mir damit meinen persönlichen Zugang zum Minimalismus ermöglicht hat.

Zum Schluss ein schönes Zitat des Dichters Tagore dazu:

I dived down into the depth of the ocean of forms, hoping to gain the perfect pearl of the formless.

(Tagore, Rabindranath, Poem 100, Gitanjali, London 1914)

Schwere Kost, was? Jetzt ihr: Alles zu abgehoben? Wie nehmt ihr Leere wahr? Spricht euch asiatische Minimalismus-Ästhetik an?

9 Kommentare

  1. Wow, ein wirklich schöner Beitrag. Obwohl ich in einem kleinen 10m² Zimmer lebe, versuche ich auch mehr Raum zu schaffen. Leerer Raum fühlt sich für mich immer an wie ein Neuanfang, ein Raum, in dem ich nicht an alten hänge, sondern Platz für mich und Neues habe. Raum in dem ich mich verwirklichen kann. Die japanische Lehre gefällt mir sehr gut, hast du diesbezüglich vielleicht einen Buchtipp? Irgendws zum reinlesen? Liebe Grüße limina

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  2. Ein sehr toller Beitrag. Erinnert mich an eine Szene aus dem Film „The last samurai“ mit Tom Cruise, als dieser in einem Raum, der sonst leer war, nur eine Rüstung vorfand. Eine eindrucksvolle Szene. Wegen der Leere im Raum wurde so der Wert dieser Rüstung nur noch mehr hervorgehoben.

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  3. Sehr interessanter Beitrag! Ich gebe den Dingen gerne eine leere Umgebung, mal mehr, mal weniger, sogar in geschlossenen Schränken und nun hat das Kind auch endlich einen Namen.

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  4. Pingback: Buchvorstellung: John Maeda - Simplicity | Minimalistenfreun.de

  5. Ein toller Artikel! Vielen Dank! Gerade der theoretische Teil spricht mich sehr an. Die Leere als „raumfüllender“ Gegenstand oder fast schon als Wesen … Leere gibt den (wenigen) Gegenständen Bedeutung.
    So empfinde ich es: wie soll man Schönes inmitten von Krempel überhaupt als „schön“ entdecken? Es wird erstickt vom Kram.
    Ich merke, dass ich gern viel leeren Raum um mich habe – um dort die Dinge zur Geltung zu bringen, die mich wirklich „bereichern“. Auch wenn sie gar nicht wertvoll sind.
    Aber das gilt nicht nur für unsere Wohnräume, sondern auch für unser Leben. Wenn mein Leben im Viertelstundentakt ausgebucht / „getaktet“ ist, kann ich keine schönen Erlebnisse mehr haben – nur von einem Termin zum nächsten hetzen. Deshalb halte ich mir immer viel Zeit frei – um einfach nur „zu mir kommen zu können“. Viele Leute, die ich kenne, pflastern ihre Freizeit schon Monate im Voraus zu, um bloß niemals „Leerlauf“ zu haben. Für mich eine Horrorvorstellung.

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  6. Danke für den Beitrag. Viel zu häufig wird Leere einfach nur zugestellt. Das Konzept von positiver Leere leuchtet ein.
    Gruß, Marco

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  7. Sehr schöner Artikel. Überflüssiger Konsum der einem von der Werbeindustrie aufgedrängt wird macht abhängig und unfrei. Weniger ist tatsächlich mehr. Weiter so.
    Liebe Grüße, Hans

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  8. Danke. Mit Deinen Gedanken und theo-retischem Wissen hast Du mir essentielles, vormals unlösbares, gelöst. Domo arigato gozaimashita.

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